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Gotterdichtung: 1. Der Seherin Gesicht

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Beitrag  Magiccircle So Jul 17, 2011 11:25 pm

Der Sammler des Codex Regius hat dieser Dichtung die erste Stelle gegeben,und als der gelehrte Isländer Snorri um 1220 seine Mythenlehre schuf,nahm er das Fachwerk von diesem dichtenden Vorgänger: In der Tat fühlen wir uns hier auf hoher Warte und überschauen das Geschick der götter - nicht des Menschenvolkes - von der Urzeit bis in die frene Zukunft: Eltschöpfung,Balders Tod,Götteruntergang und die Neue Erde; zwischen diese Pfeiler fügt sich das übrige ein. Der Zukunft,den >letzten Dingen<,fällt am meisten Raum zu: aus zerstreuten Einzelsagen baut ich eine Art Geschichte des Weltendes auf.
Diesen vielgliedrigen Stoff fassen einige fünfzig Strophen. Das war nicht zu erreichen mit dem gewohnten eddischen Erzählen,das in lebhaften Redeauftritten vorschreitet. Unser Lied handhabt eine eigenartige Kunst: Bilder reiht es auf ruhende und bewegte,mit außergewöhnlich anschauungsweckender Kraft der sparsamen Zeilen; auch der mythischen Landschaft gibt es Gestalt: Gesätze wie 5, 49 und namentlich 51 sind ohne Gegenstücke, und es weiß die Bilderreihe in die seherhafte Stimmung zu tauchen,die den Hörer empfänglich macht.
Das ganze gibt sich als Ansprache einer idealisierten Seherin. Sie teilt das Wissen ihrer riesischen Verwandten,nicht deren Götterhaß; vor Odin ihrem Meister hat sie sich bewahrt,in Odins auftrag spricht sie zu den Menschen als einer aufhorchenden Thinggemeinde. Die kehrreimhaften Worte,die uns an die Sprecherin immer wieder erinnern,tragen viel zu dem prophetischen Klang bei.
An der Seherin Gesicht als einem Gipfel der altgermanischen Dichtkunst können wir uns freuen,auch wenn wir uns eingestehn,daß uns recht vieles halbklar bleibt

Heusler


1.
Gehör heisch ich heiliger Sippen, hoher und niedrer Heimdallssöhne:
du willst Walvater,das wohl ich künde,was alter Mären der Menschen ich weiß.

2.
Weiß von Riesen,weiland gebornen,die einstmal mich auferzogen; weiß neun Heime,neun Weltreiche,des hehren Weltbaums Wurzeltiefen.

3.
Urzeit war es,da Ymir hauste: nicht war Sand noch See noch Salzwogen,nicht Erde unten noch oben Himmel,Gähnung grundlos,doch Gras nirgend.

4.
Bis Burs Söhne den Boden hoben,sie,die Midgard,den mächtigen,schufen: von Süden schien Sonne aufs Saalgestein,grüne Gräser im Grund wuchsen.

5.
Von Süden die Sonne,des Monds Gesell,schlang die Rechte um den Rand des Himmels: die Sonne kannte ihre Säle nicht; die Sterne kannten ihre Stätte nicht; der Mond kannte seine Macht noch nicht.

6.
Zum Richtstuhl gingen die Rater alle,heilige Götter,und hielten Rat:für Nacht und Neumond wählen sie Namen,benannten Morgen und Mittag auch,Zwielicht und Abend,die Zeit zu messen.

7.
Die Asen eilten zum Idafeld,die Heiligtümer hoch erbauten; sie stzten Herde,hämmerten Erz; sie schlugen Zangen,schufen Gerät.

8.
Sie pflogen heiter im Hof des Brettspiels,nichts aus Golde,den Göttern fehlte-,
bis drei gewaltige Weiber kamen,Töchter der Riesen aus Thursenheim.

9.
Zum Richstuhl gingen die Rater alle,heilige Götter,und hielten Rat,wer der Zwerge Schar schaffen sollte aus Brimirs Haut und Blains Knochen.

10.
Motsognir ward der mächtigste aller Zwerge,der zweite Durin; die machten manche menschenähnlich,wie Durin es hieß,die Höhlenzwerge.

11.
Bis drei Asen aus dieser Schar,stark und gnädig,zum Strand kamen, sie fanden am Land,ledig der Kraft,Ask und Embla,ohne Schicksal.

12.
Nicht hatten sie Seele,nicht hatten sie Sinn,nicht Lebenswärme noch lichte Farbe; Seele gab Odin,Sinne gab Hönir,Leben gab Lodur und lichte Farbe.

13.
Eine Esche weiß ich,sie heißt Yggdrasil,die hohe,benetzt mit hellem Naß:
von dort kommt der Tau,der in Täler fällt; immergrün steht sie am Urdbrunnen.

14.Von dort kommen Frauen,vielwissende,drei aus dem Born,der unterm Baume liegt: Urd heißt man eine, die andere Werdandi sie schnitten ins Scheit-, Skuld die dritte; Lose lenkten sie,Leben koren sie Menschenkindern,Männergeschick.

15. Da kam zuerst Krieg in die Welt,als Götter Gullweig mit Geren stießen und in Heervaters Halle brannten,dreimal brannten die dreimal geborne.

16.
Man hieß sie Heid,wo ins Haus sie kam,das weise Weib; sie wußte Künste: sie behexte Kluge; sie behexte Toren; immer ehrten sie arge Frauen

17.
Zum Richtstuhl gingen die Rater alle,heilige Götter,und hielten Rat,ob Zins die Asen zahlen sollten oder alle Götter Opfer haben.

18.
Den Ger warf Odin ins Gegnerheer:der erste Krieg kam in die Welt, es brach der Bordwall der Burg der Asen,es stampften Wanen streitkühn die Flur.

19.
Zum Richtstuhl gingen die Rater alle,heilige Götter und hielten Rat,wer ganz die Luft mit Gift erfüllt,Ods Braut verraten Riesensöhne.

21.
Nur Thor schlug zu,zorngeschwollen: selten sitzt er,wenn er solches hört:da wankten Vertrag,Wort und Treuschwur,alle Eide,die sie ausgetauscht.

22.
Saß einsam draußen,als der Alte kam,der furchtbare Ase,und ins Aug mir sah: Was fragst du mich? Was forschst du bei mir? Ich weiß,Odin,wo dein Auge du bargst.

23.
Ich weiß Odins Auge verborgen in Mimirs Quell,dem märchenreichen; Met trintkt mit Mimir allmorgendlich aus Walvaters Pfand-wißt ihr noch mehr?

24.
Halsschmuck und Ringe gab Heervater,für Zukunftswissen und Zauberkunde: weit sah ich,weit die Welten alle.

25.
Ich sah Balder,dem blutenden Gott,Odins Sohne,Unheil bestimmt: ob der Ebne stand aufgewachsen der Zweig der Mistel,zart und schön.

26.
Ihm ward der Zweig,der zart erschien,dem herben Harmpfeil: Hödur schoß ihn; und Frigg weinte in den Fensälen um Walhalls Weh- wißt ihr noch mehr?

27.
Geknebelt sah ich im Quellenwald den Leib Lokis,des listenreichen. Da sitzt Sygin,ihr Gesell bringt ihr wenig Wonne- wißt ihr noch mehr?

28.
Durch Gifttäler gleitet von Osten mit Schneiden und Schwertern der Schreckenstrom

29.
Im Norden stand auf dem Nachtfelde für Sindris Sippe ein Saal aus Gold; ein andrer hob sich auf heißem Grund,der Biersaal des Riesen der Brimir heißt.

30.
Einen Saal sah ich,der Sonne fern,am Totenstrand,das Tor nach Norden: tropfendes Gift träuft durch das Dach; die Wände sind aus Wurmleibern.

31.
Dort sah ich waten durch Sumpfströme Meineidige und Mordtäter; dort sog Nidhögg entseelte Leiber,der Wolf riß Leichen- wißt ihr noch mehr?

32.
Eine Alte östlich im Erzwald saß; die Brut Fenrirs gebar sie dort. Von ihnen allen wird einer dann des Taglichts Töter,trollgestaltet.

33.
Er füllt sich mit Fleisch gefallner Männer,rötet mit Blut der Rater Sitz. Schwarz wird die Sonne die Sommer drauf; Wetter wüten- wißt ihr noch mehr?

34.
Dort saß auf dem Hügel und schlug die Harfe der Riesen Hüter,der heitre Eggdir; es krähte bei ihm im Kiefernbusch der feuerrote Hahn,der Fjalar heißt.

35.
Doch Güldenkamm bei den Göttern kräht: er weckt die Helden bei Heervater; unter der Erde ein andrer kräht,in Hels Halle,ein braunroter Hahn.

36.
Gellend heult Garm von Gnippahellir: es reißt die Fessel,es rennt der Wolf. Vieles weiß ich,Fernes schau ich: der Rater Schicksal,der Schlachtgötter Sturz.

37.
Brüder kämpfen und bringen sich Tod,Brudersöhne brechen die Sippe; arg ist die Welt,Ehbruch furchtbar,Schwertzeit,Beilzeit,Schilde bersten,Windzeit,Wolfszeit,bis die Welt vergeht- nicht einer will des andern schonen.

38.
Es gärt bei den Risen; des Gjallarhorns,des alten,Klang kündet das Ende. Hell bläst Heimdall,das Horn ragt auf; Odin murmelt mit Mimirs Haupt.

39.
Yggdrasils Stamm steht erzitternd,es rauscht der Baumgreis,der Riese kommt los. Alles erbebt in der Unterwelt,bis der Bruder Surts den Baum verschlingt.

40.
Was gibt´s bei den Asen? Was gibt´s bei den Alben? Riesenheim rast; beim Rat sind die Götter. Vor Steintoren stöhnen Zwerge,die Weisen der Felswand- wißt ihr noch mehr?

41.
Gellend heult Garm vor Gnippahellir: es reißt die Fessel,es rennt der Wolf. Vieles weiß ich,Ferner schau ich: der Rater Schicksal,der Schlachtgötter Sturz.

42.
Hrym fährt von Osten,er hebt den Schild; im Riesenzorn rast die Schlange. Sie schlägt die Wellen; es schreit der Aar,Leichen reißt er,los kommt Nagelfar.

43.
Der Kiel fährt von Osten: es kommen Muspells Leute zum Land; Loki steuert. Mit dem Wolfe zieht die wilde Schar, Byleiptis Bruder bringen sie mit.

44.
Surt zieht von Süden mit sengender Glut; von der Götter Schwert gleißt die Sonne: Riesinnen fallen,Felsen brechen; zur Hel ziehn Männer,der Himmel birst.

45.
Dann naht neue Not der Göttin,wenn wider den Wolf Walvater zieht und gegen Surt der sonnige Freyr: fallen muß da Friggs Geliebter.

46.
Der starke Sohn Siegvaters kommt,Widar zum Kampf mit dem Waltiere: es stößt seine Hand den Stahl ins Herz dem Riesensohn; so rächt er Odin.

47.
Der hehre Sproß der Hlodyn naht. Der Lande Gürtel gähnt zum Himmel: Gluten sprüht er,und Gift speit er; entgegen geht der Gott dem Wurm.

48.
Der Erde Schirmer schlägt ihn voll Zorn- die Menschen müssen Midgard räumen-; weg geht wankend vom Wurm neun Schritt,der Gefecht nicht floh,der Fjörgyn Sohn.

49.
Die Sonne verlischt,das Land sinkt ins Meer; vom Himmel stürzen die heiteren Sterne: Loki umtost den Lebensnäher; hohe Hitze steigt himmelan.

50.
Gellend heult Garm vor Gnippahellir: es reißt die Fessel,es rennt der Wolf. Vieles weiß ich,Fernes schau ich: der Rater Schicksal,der Schlachtgötter Sturz.

51.
Seh aufsteigen zum andern Male Land aus Fluten,frisch ergrünend: Fälle schäumen; es schwebt der Aar,der auf dem Felsen Fische weidet.

52.
Auf dem Idafeld die Asen sich finden und reden dort vom riesigen Wurm und denken da der großen Dinge und alter Runen des Raterfürsten.

53.
Wieder werden die wundersamen goldnen Tafeln um Gras sich finden,die vor Urtagen ihr eigen waren.

54.
Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser: Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen im Sieghof,froh,die Walgötter- wißt ihr noch mehr?

55.
Den Loszweig heben wird Hönir dann; es birgt beider Brüder Söhne das weite Windheim- wißt ihr noch mehr?

56.
Einen Saal seh ich sonnenglänzend,mit Gold gedeckt,zu Gimle stehn: wohnen werden dort wackre Scharen,der Freude walten in fernste Zeit.

57.
Der düstere Drache tief drunten fliegt,die schillernde Schlange aus Schluchtendunkel. Er fliegt übers Feld; im Fittich trägt Nidhögg die Toten: nun versinkt er.

Anmerkungen:

1. (1,2) Die Worte lehnen sich an die Formel an,womit der Redner auf den Thing Schweigen forderte. Die Thinggemeinde ist "heilig" d.h. unverletzlich unter verstärktem Rechtsschutz stehend. Wieso die Menschen Heimdalls Söhne sind,ist dunkel; vgl Vorwort. Ein Aufblick zu Odin,der offenbar nich unter den Zuhörern gedacht ist.2. (1-4) Das Aufwachsen bei dem uralten und vielkundugen Riesengeschlecht erklärt das Vorzeitwissen der Seherin. 4. (1) Odin und seine zwei Brüder. 5. Die Erde mit dem Himmel darüber schwebt hier als große Halle vor. 6. (5-10) d.h. die Götter schaffen die festen Gezeiten und zwar indem sie dem Zustand von 5. (5-10) ein Ende machen. 14. Urd und Skuld sind zwei alte Namen,beide soviel wie "Schicksal,Notwendigkeit"; später deutete man sie um auf Vergangenheit und Zukunft und nannte die Dritte "die Werdende", die Gegenwart nach dem Muster des lateinischen Parzen. 16. Heid ist ein stehender Name von Seherinnen. 19. Ods Braut ist Freyja. 20. (5-Cool Die Götter hatten mit dem Riesenbaumeister einen Vertrag beschworen. Der Dichter hebt seinen Bruch so stark hervor,weil daraus die den Göttern verhängnisvolle Fehde mit dem Riesengeschlecht neu erwachte. 21. (4) Der Weltesche, (7) dem Auge Odins, das dem Riesen Mimir am Nornenquell verpfändet wurde (Str.23). Die Strophe ist dunkel. 22-24. Die Seherin auf ihrem Orakelsitz wurde von Odin besucht,und da sie sich als wissende bewährte,belohnt und mit tiefem Zukunftsblick begabt. 27. Loki,der Hödur zu dem Schuß verführt hatte,wird zur Strafe von den Göttern gefesselt. Sein Weib Sigyn wehrt nach Snorri,das auf ihn tropfende Schlangengift ab. 28. Über schwerterführende Flüsse geht der Weg zur Unterwelt. Die Strophen 29-31 hat schon Snorri in ihrem überlieferten Zusammenhang nicht zu retten gewußt und in die zukünftige Neue Welt verpflanzt als Gegenstücke zu Strophe 56. 29. Sindri ist ein Zwerg. 31. Eine Wasserhölle für die schwersten Untaten (bei "Mord" ist an heimliche,ehrlose Tötung zu denken. 34.(1-4) Die Riesin ist wohl die Alte von 32,und der Hüter hat ihre Wölfe zu bewachen. 35. (3-4) Die Einherjer,die Odinkrieger der Walhall,die nur an dieser kurzen Stelle erwähnt werden. 36. Garm,ein riesischer Hund,eine Art Cerberus. (3) Nämlich die Fessel des Fenriswolfs: Ihn hatten die Götter einst mit mit Kunst gebunden, sein Loskommen ist das eigentliche Zeichen zum Anmarsch der riesischen Feinde. 39. (4) Kann auf den Fenriswolf oder auf Loki bezogen werden. (7) Eine Umschreibung für "Riese" im allgemeinen. 42. (4) Die Midgardschlange,die die Erde umschlingt. (9) Naglfar,das Trollenschiff,das aus den Fingernägeln der Toten gezimmert wurde. 43. (7) Loki. 44. (1) Surt,ein Feuerriese. (3,4) Die Götter stehn mit blitzenden Waffen,zum Kampfe bereit. 45. (1,2) Der Frigg erster Schmerz war Balders Tod, Str.26. (7,Cool Odin wird vom Fenriswolf verschlungen. Sein Sohn Widar rächt ihn (Str. 46). 47 (1,2) Thor,seine Mutter heißt bald Hlodyn,bald Fjörgyn 48, (Cool (6) Die Midgardschlange. 48 (7) In dieser umstrittenen Stelle ist der Nebensatz auf die Schlange zu beziehen. 55 (2) Hönir,ein Gott der in unseren Mythen nur selten, u.a. als Gefährte Odins auftritt. (3,4) die beiden Brüder sind vielleicht Hönir und Lodur,beide erscheinen mit Odin bei der Menschenschöpfung. (5) Windheim,Umschreibung für Himmel. 56 (1-4) Der Saal ist wohl der neuerbaute Walhall von Str.54 Einfluß von Offenb. Joh. 21 ist zu erwägen. Aber die zweite Strophenhälfte kann man aus nordischer,westlicher Anschauung erklären; >wackere Scharen< konnten auch die Gefolgsmannen Odins heißen und ihr Leben bei Kampfspiel und Gelage ein >der Freuden walten<. 57 eine malerisch eindrucksvolle,aber in ihrem Zusammenhang schwer verständliche Strophe. den Drachen Nidhögg sahen wir in der Wasserhöhle seines Amtes walten, es überrascht,daß er und seine Leichen das Versinken der Erde,die allgemeine Vernichtung überdauert haben und es jetzt erst aus der Neuen Welt,endgültig verschwinden. Man dächte an einen visonären Nachhall,wenn dieser Drache für die Vorangehende ein wenig mehr bedeutet hätte.










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